Die Ära

1970

Salvador Allende wird Präsident in Chile. Die Rote Armee Fraktion wird gegründet. Willy Brandt trifft in Erfurt Willi Stoph. Die Alliierten starten Verhandlungen zum Berlin-Abkommen. Die Bundesrepublik Deutschland und Polen unterzeichnen den Warschauer Vertrag.

Die ARD strahlt den allerersten Tatort „Taxi nach Leipzig“ aus. Die Beatles trennen sich und veröffentlichen ihr letztes Album „Let it Be“. Jimi Hendrix stirbt. Die Band Queen gründet sich. Die Band Kraftwerk gründet sich. In den deutschen Album Charts dominieren James Last, die Beatles, Led Zeppelin, Simon & Garfunkel und Deep Purple.

Ein studentisches Kollektiv übernimmt das abgehalfterte Kino BTL in der Potsdamer Straße und verwandelt  es in das Quartier Latin, ein „Bistro“ mit altrömischer Küche und Saal. Für Jazz, Folklore, Kino und TANZ.

Erste Konzerte finden dort im November 1970 statt. Im Rahmen des viertägigen Total Music Meeting spielen Derek Bailey, die Evan Parker Group, die Gunter Hampel Group, Brötzmann/van Hove/Bennink und Alexander von Schlippenbach. Im Dezember treten bei den eine ganze Woche andauernden Berliner Song- und Kabarett-Tagen unter anderem Witthüser & Westrup, Hannes Wader, Schobert & Black, Floh de Cologne und Interpol auf.

1971

Helmut Schmidt verfügt als Bundesverteidigungsminister den Haarnetz-Erlass, der das Tragen langer Haare bei der deutschen Bundeswehr erlaubt. Erich Honecker wird in der DDR Nachfolger von Walter Ulbricht als Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED. Das Magazin Stern startet die Kampagne „Wir haben abgetrieben!“ Unterzeichnung des  Viermächteabkommens über Berlin sowie des Transitabkommens zwischen BRD und DDR. Im März strahlt die ARD erstmals die Sendung mit der Maus aus.

Zahlreiche Jahrhundert-Alben erschienen: Led Zeppelins „IV“ mit der unsterblichen Rockballade „Stairway to Heaven“, David Bowies „Hunky Dory“, Marvin Gayes „What’s Going On“, Jethro Tulls „Aqualung“, Gil Scott Herons „Pieces of A Man“ – Scott Heron tritt in den 80ern insgesamt viermal im Quartier Latin auf.

Das Quartier Latin, als Hybrid aus Bistro-Kneipe und Livemusik-Schuppen, bietet nun schon rund ums Jahr Konzerte in stilistisch großer Bandbreite. Unter anderem das Oldtimer Jazz Meeting mit den Kreuzberg Stompers, den Jazzing Babies, der Dixiegroup Berlin und der Henschelgroup. Konzerte von Ton Steine Scherben. Mehrere mehrtägige Konzertreihen des Blues-Originals Champion Jack Dupree. Krautrock mit Agitation Free/Ashra Temple (bei beiden spielt der junge Lutz Ulbrich mit, heute als Lüül bekannt). Als „Blödel-Barden“ gelabelt: Insterburg & Co. Liedermacher Ulrich Roski und Hannes Wader & Werner Lämmerhirt. Improvisationsmusik beim Free Music Market, unter anderem mit der Peter Brötzmann Group, dem Manfred Schoof Quartett und Alexander von Schlippenbach Quartett.

1972

Die BRD und die DDR schließen im Zuge der Neuen Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt das Transitabkommen und den Grundlagenvertrag ab. In Münster findet die erste deutsche Schwulendemo statt, die DDR erlaubt Abtreibungen, die BRD senkt das aktive Wahlalter auf 18 Jahre. In den USA kommt die erste Spielkonsole auf den Markt (Magnavox Odyssey), in Kalifornien startet – als Automatenhersteller – der spätere Videospielproduzent Atari, in Deutschland gründen fünf Ex-IBMler die Softwarefirma SAP.

Im April erblickt die Erstausgabe des Comicmagazins Zack das Licht der Kioske, das deutsche Fernsehen zeigt die allererste Folge von Star Trek und des „Musikladen, eine Show mit Pop und Rock und langen Haaren. In Ostberlin gründet sich die Rockgruppe City – sie wird 16 Jahre später, im März 1988, auch im Westberliner Quartier Latin spielen.

Das Quartier Latin erlebt 1972 die dreitägige Riesenosterfete mit den Salty Dogs, der Omega Jazzband und Whoopees; der Bluesmusiker Memphis Slim gibt sechs Konzerte und zu jeweils mehrtägigen Dauergaststpielen stehen Anne Morre, Linkskabarettist Dieterich Kittner, Champion Jack Dupree und Lokomotive Kreuzberg auf der Bühne. Die Berliner Volkstheater Cooperative bietet drei Tage lang Politrockspektakel mit Hoffmann‘s Comic Teater, Lok Kreuzberg und Peter Keiler. Noch konkreter politisch positioniert sich die Vollversammlung zugunsten Amnesty International, unter anderm mit Ulrich Roski, Hannes Wader, Insterburg & Co, Dieter Kosanke, Das Fenster und Konstantin Papanastasi. Ebenfalls sehr typisch für diese politkulturell aufgeladenen Quartier-Latin Zeit war das Benefiz-Folklorekonzert zugunsten des in Spanien verhafteten Robert St.

Ach, und seit dem Spätsommer 1972 ist Manfred Saß der Pächter des Quartier Latin – und wird es zusammen mit seiner Frau Christa bis Ende 1989 auch bleiben.

1973

Die Vereinten Nationen (UN) nehmen die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik per Akklamation als 133. und 134. Mitglied  auf. Aufgrund der anhaltenden Ölkrise gilt in der BRD im November erstmals das allgemeine Sonntagsfahrverbot für PKW- und LKW.

Im März kommt „The Dark Side of the Moon“ von Pink Floyd heraus, im Juni feiert das Musical The Rocky Horror Show in London Premiere und in Sydney gründen die Brüder Malcolm and Angus Young die Hard-Rock-Band AC/DC.

Und in New York geht der Club CBGB an den Start. Da hatte das Quartier Latin schon fast drei Jahre offen.

Im Quartier Latin gab es 1973 wieder zwölf Monate volles Programm. Dazu zählten zwei Abende mit Big Joe Williams, dreimal zwei Abende Os Mundi (deren Konzertplakate Erik Spiekermann gestaltete), drei Abende hintereinander Otto Walkes! Die namhaften Bluesmusiker Eddie Boyd und Errol Dixon, Whispering Smith & Lightning Slim, Sonny Terry & Brownie Mc Ghee traten jeweils mehrfach auf. Das fünftägige Total Music Meeting bot Free Jazz, unter anderem vom Albert Mangelsdorff Quintett, dem Globe Unity Orchestra. Die Formation Bakmak trat auf (eine Jazz-Rock-Fusion-Band, in der auch Reinhold Heil spielte, später Nina Hagen Band und Spliff), sowie Floh de Cologne, Lok Kreuzberg und Eloy. Dann startete auch die Reihe „Songs in der Kneipe“, mit den Künstlern Michael Thilo, Bernie Würfel, Wolfgang Müller, Ramesh, Trevor & James und Winfried Mewes, die zudem in weiteren Kombinationen viele weitere Konzertabende und eine Weihnachstfete am Heiligabend bestritten. Und natürlich wieder dutzende Abende mit dem Bluesmusiker Champion Jack Dupree.

1974

Die Guillaume-Spionageaffäre beherrscht ab Frühjahr das politische Geschehen, in der Folge tritt Bundeskanzler Willy Brandt von seinem Amt zurück – und das kurz nachdem in Bonn und Ostberlin die ständigen Vertretungen der beiden deutschen Staaten öffneten. Helmut Schmidt wird Nachfolger Brandts, die DDR erhält weitere internationale Anerkennungen als eigenständiger Staat. 

Im Oktober startet das ZDF die Krimiserie Derrick, sie wird die am meisten ins Ausland verkaufte deutsche Serie aller Zeiten. Popmusikalisch ist 1974 das Jahr von Glam Rock, Acts wie Gary Glitter und die Rubettes führen die Charts an. Zugleich begründen und prägen Genesis und andere das Genre Progressive Rock. Die Discowelle baut sich langsam auf und mit dem unkaputtbaren Ohrwurm Waterloo gewinnt ABBA nicht nur den Grand Prix d’Eurovision de la Chanson sondern auch die Herzen von Millionen Fans. Doch auch der Punk zeigt 1974 erste Knospen, mit der Gründung der Ramones in New York, zum Beispiel. Und das im November erscheinende Kraftwerk-Album Autobahn erreicht internationale Top-10-Platzierungen und legt den Grundstein, besser, den Grundklang für Electro und Techno.

Für das Quartier Latin ist 1974 ein ereignisreiches Jahr – was auch daran liegt, dass Klaus Achterberg erstmals als Programmmacher einsteigt und sogleich in die Vollen geht. So gastieren im März vier Abende hintereinander Udo Lindenberg & sein Panikorchester, im September Peter Herbolzheimer für zwei und Volker Kriegel für drei Konzerte sowie der legendäre Jazzgeiger Stephane Grapelli mit seinem Hot Club of London. Die Berliner Musiker Initiative feiert drei Abende lang ihr einjähriges Jubliäum – mit dabei unter anderem Embryo, Agitation Free und Holger Münzers 1848.

Außerdem – unter vielen, vielen anderen – Konzerte von Pell Mell, Curly Curve, Sands Family, Karthago, Rockcypfel (!), Release Music Orchestra und vielen Folk- und Jazz-Acts. Auf dem Programm stehen auch wieder mehrtägige Gastspiele von Lok Kreuzberg, Floh de Cologne, Dietrich Kittner und Champion Jack Dupree. Und im Oktober finden jene zwei Konzerte von Kraan statt, die als mega-erfolgreiches Live-Album besonders berühmt werden sollen – doch dazu mehr in unserem Buch.

[wird erweitert]

___ 2018 © Marco Saß + Henry Steinhau ___