Einmal zahlen, alles lesen

Ein „Netflix“ für Journalismus? Wonach Online-Nutzer rufen, scheinen sich Zeitungsverlage nicht zu sehnen und geben News-Aggregatoren einen Korb – das könnte sich ändern.

Hinweis: Der nachfolgende Artikel mitsamt der telefonisch und per Mail eingeholten Exklusiv-Aussagen entstand im Sommer, seitdem harrte er der Bearbeitung durch die Redaktion, die ihn angefordert hatte. Gestern nun informierte mich der Redakteur, dass sie den Text nicht bringen würden, daher veröffentliche ich ihn jetzt hier im Stand von Mitte September 2019.

Foto: Bundesarchiv, Bild 183-81005-0003/via Wikipedia CC-BY-SA 3.0 Ausschnitt: Henry Steinhau CC-BY-SA 3.0

Der Ruf nach einer Flatrate für ein ganzes Bündel journalistischer Online-Angebote ist nicht ganz neu. Das seit Jahren immer wieder mal vorgeschlagene Konzept einer „Content-Allianz“ und einem verlagsübergreifenden Pauschalpreis-Abonnement bekam allerdings kürzlich neuen Rückenwind. In einer Studie der Medienanstalt Nordrhein-Westfalen mit dem Titel „Money for nothing and content for free?“ schlussfolgern die Autoren, dass es unter Nutzerinnen und Nutzern zwar weiterhin eine stark ausgeprägte Gratismentalität gegenüber digitaljournalistischen Inhalten gebe, sie sich aber zugleich „eine Art Netflix oder Spotify für Journalismus wünschen – zu vergleichbaren Preis- und Vertragsbedingungen.“

Spotify und Netflix sind die derzeit wohl bekanntesten Streamingdienste für Musik beziehungsweise Filme, Serien und Shows. Daneben agieren noch Amazon Prime, Apple Music und andere erfolgreich am Markt. Die Big Player steigern nach wie vor Nutzerzahlen und Umsätze. Zudem kamen in den vergangenen und kommen in den nächsten Monaten weitere große Streamingportale für Filme, Serien, Shows hinzu, wie Joyn, Apple TV+, Disney sowie – jüngst angekündigt – das Social Network Facebook und viele andere. Sowohl für die Musik- als auch für die Filmindustrie erweisen sich Streamingplattformen als relevanter, mitunter größter Umsatzbringer und damit als unverzichtbare Vertriebsschiene – Streaming wird mehr und mehr zum Mainstreaming.

Auch die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender verzeichnen steigende und mittlerweile so hohe Zugriffszahlen, dass sie teilweise mit denen der (kostenlosen) Video-Plattformen Youtube und Vimeo mithalten können. Zwar sind die Öffentlich-Rechtlichen aufgrund ihrer Finanzierung durch die Rundfunkabgabe (von derzeit etwa 17 Euro monatlich) vom Abonnementmarkt abgekoppelt und noch gibt es keine vereinende Plattform für die Inhalte aller Sender (weshalb auch immer). Doch gewiss tragen ihre Mediatheken dazu bei, die VerbraucherInnen an das bequeme streamen von Inhalten, auch vielen journalistischen Inhalten – nahezu jederzeit, zudem mobil und auf zahlreichen Endgeräten – weiter zu gewöhnen. Und diese Gewöhnung stellt die Verlage vor die Herausforderung, gemeinsame journalistische Angebote zu schaffen, ebenso verfügbar, ebenso preiswert.

Wo liegt das Problem? Beim Preisniveau

Das  Musik- und Film-Streaming, also der Abruf von audio-visuellen Medieninhalten nach Bedarf („on demand“), das ist immer mehr Menschen eine monatliche Abogebühr wert; die Flatrates bewegen sich derzeit meist um die 10 Euro beziehungsweise zwischen 8 und 15 Euro. Und auch für digitalen Journalismus scheint es generell eine Zahlungsbereitschaft zu geben, wie entsprechende Untersuchungen ergeben. Gleichwohl sind die absoluten Zahlen bei den Digitalabos der Zeitungen, verglichen mit Print, nach wie vor sehr gering.

Womöglich liegt das auch an den Preisen: Digitalabonnements für Tageszeitungen kosten derzeit monatlich rund 20 bis 50 Euro. Das mag für Zeitungen – Online- und Druckversionen – ein übliches Niveau und für die Menge an täglich publiziertem Content je Titel vielleicht auch gerechtfertigt sein. Aber es ist eben erheblich teurer, als eine Streaming-Flatrate. Zumal die Zeitungsartikel lediglich von einem einzelnen Anbieter kommen, während man beim Musik- oder Filmstreaming aus einem x-fachen an Inhalten und Anbietern schöpfen kann – und das für ein Drittel oder gar Viertel eines Zeitungsabos.

Die Broschüre ist unter der Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht CC BY-SA 4.0

„Nutzungsfreundlichkeit, Preis und Vertragsbedingungen“ seien den NutzerInnen wichtig, sagt die oben erwähnte NRW-Studie, und sie nennt explizit die 10-Euro-Flatrate als von den Befragten präferierte Größenordnung. Auf die Frage, ob sich das für beteiligte Verlage rechnen könne, zogen die Befragten dann schon mal Vergleiche zu Spielfilmen: trotz gigantischer Produktionsaufwände landeten die Filme ja dennoch in den geflatrateten Streamingportalen. Das scheint, so die Botschaft der VerbraucherInnen, also irgendwie zu gehen. Die Disruption in ihrem Lauf, halten weder Paywall noch Wirtschaftlichkeitsrechnungen auf.

Verlage brauchen neue Vertriebswege und -erfolge

Und es ist ja nicht so, dass die Zeitungs- und Zeitschriftenverlage keine Sorgen mit Absatzzahlen und keinen Bedarf an neuen Vertriebswegen hätten. Im Gegenteil: Das Interesse an Nachrichtenmedien sei laut Umfragen international gesehen geringer geworden. In Deutschland büßen regionale Zeitungen, Zeitschriften und Magazine weiter an Auflagen ein, zuletzt durchschnittlich zwei bis drei Prozent im Jahr, mitunter noch massiver. Zwar steigern viele die Zahl ihrer E-Paper-, Online- oder Digitalabos, doch die Erosion der Reichweiten und Gewinne können sie nicht ausgleichen. Ausnahmen, wie der Berliner  Tagesspiegel bestätigen die Regel. Auch wenn die Zeitschriften- und Zeitungsverlegerverbände in Bilanzpressemitteilungen zeilenweise Zuversicht streuen, wird es in Wahrheit für immer mehr Verlage wirtschaftlich immer enger. Und wo Redaktionen und Produktionskosten schon so weit ausgedünnt und rationalisiert, zusammengelegt, gemantelt und genewsroomt wurden, bis kaum noch was einzusparen ist, muss wohl erneut oder kräftiger an den Vertriebsschrauben gedreht werden.

Längst überlegen die Verlage, auf die gedruckte Ausgabe komplett verzichten, um die Kosten für Druck, Papier und Auslieferung zu sparen. Doch das scheint riskant: Wie Forscher anhand der britischen Zeitung The Independent herausfanden, ging dort ein Großteil der Abonnenten partout nicht mit ins Digitale sondern dem Verlag als Kunden schlicht verloren. Ob sich der Verzicht auf gedruckte Zeitung  auch weniger ernüchternd gestalten ließe, könnte sich an der taz ablesen lassen. Die Tageszeitung hat vor einem Jahr ein „Szenario 2022“ beschlossen, in dem auf eine rein digitale Tagesausgabe hingearbeitet wird (die Wochenendausgabe wird womöglich weiterhin gedruckt) – im Einvernehmen und gemeinsam mit der taz-Genossenschaft und interessierten LeserInnen. Doch gerade weil die taz mit fast 20.000 zahlenden Genossenschaftsmitgliedern ohnehin schon ein recht tragfähiges Geschäftsmodell hat – und womöglich eine besondere, auch demografisch spezifische Leserschaft –  mag dort die finale Transformation ins Digitale weniger ernüchternd verlaufen. Über solch eine nicht riesige, doch sehr treue und damit solide Trägergenossenschaft verfügen viele anderen Zeitungsverlage jedoch nicht. Ihnen wird die Lernkurve des Independent vermutlich eine Mahnung sein.

Kurzum: Die Zeitungsverlage als solche müssen neue Vertriebsideen entwickeln und neue Leserschaften finden, junge Publikumsschichten gewinnen, andere Wege gehen – was sie bei jährlichen Konferenzen durchaus selbstkritisch erörtern. Doch angesichts der generellen, und, ja, disruptiven Dynamik des Streamingmarktes und egal, ob ihnen die Anbieter suspekt oder unsympathisch sind oder nicht: um Netflix-/Spotify-ähnliche Plattformen, die Zeitungsinhalte aggregieren und distribuieren, die neue Leserschichten, wieder wachsende Reichweiten und zusätzliche Erlöse ermöglichen könnten, werden sie zukünftig wohl kaum herumkommen – oder?

Die News-Aggregatoren – gekommen, um zu bleiben?

Es gibt solche Plattformen bereits. Beispielsweise Readly, PressReader oder Apple News, das im Frühjahr als Apple News+ neu aufgesetzt und zunächst nur in den USA gelauncht wurde.

READLY
Readly ging 2014 online. Für eine Flatrate von derzeit knapp 10 Euro bietet die Plattform – laut eigenen Angaben – den Zugriff auf mehr als 4.000 Magazine und Zeitschriften, darunter auch zahlreiche internationale Titel, bei vielen sind ganze Jahrgänge dauerhaft verfügbar.  Wieviel AbonnentInnen Readly zählt, verrät das schwedische Unternehmen nicht, doch allein in Deutschland seien im zweiten Quartal 2019 über 8,8 Millionen Magazinausgaben gelesen worden. Was auch immer diese imposante Zahl ausdrückt – Readly verzeichnet Wachstum, so eine Pressemitteilung vom Juli. Auf der Habenseite könnte man bei Readly die große Auswahl und die thematische Bandbreite sehen, wobei sich hauptsächlich Special Interest Magazine und auffallend viel Regenbogenpressetitel finden, während Zeitungen nur mit drei Sonntagszeitungen vertreten sind, alle aus dem Hause Axel Springer. Auch mit den teils weit zurück reichenden Archiven vermag Readly zu punkten. Dem steht jedoch die mehrheitlich altbackene Präsentation gegenüber: Zeitschriften und Magazine sind lediglich als PDF-Versionen der gedruckten Ausgaben verfügbar. Die Eins zu Eins von Print zu PDF verwandelten Digitalhefte machen das Lesen generell sehr gewöhnungsbedürftig und insbesondere auf kleineren Geräten, wie Smartphones und kleinen Tablets, komplett umständlich, da man viel zoomen, schieben und blättern muss. Wie Readly auf meine Anfrage erklärt, sollen bei einigen Titeln auch Ansichten verfügbar sein, die auf mobile Geräte hin optimiert sind, der Anteil solcher Artikel soll ausgebaut werden. Dennoch: sowohl in der Browser-Version als auch in der App wirkt das Navigieren durch die Magazine, Zeitschriften und Zeitungen sowie das Nachnutzen der Inhalte spröde, rudimentär und altmodisch. 

APPLE NEWS+
Bereits 2012 debütierte der Dienst „Next Issue“ im Web. Das gleichnamige US-amerikanische Unternehmen war ein Joint Venture der teils international agierenden Großverlage Condé Nast, Hearst Magazines, Meredith Corporation, News Corp, Rogers Media und Time Inc. und bot die Inhalte von über 200 (US-)Magazinen. 2015 benannte es die Plattform mit einem Relaunch in „Texture“ um und war damit erfolgreich oder attraktiv genug, um im März 2018 von Apple übernommen zu werden. Der Computer- und Smartphone-Hersteller nutzte die von Texture entwickelten Technologien und Infrastrukturen, integrierte diese in das eigene digitale Ökosystem. Als „Apple News+“ startete die Plattform im März 2019 neu, zunächst nur in den USA und für etwa 10 US-Dollar monatlich. Mit dem Wall Street Journal und der Los Angeles Times sind zwei renommierte, überregionale, ja, international agierende Tageszeitungen dabei. Zudem passen sich die Layouts in Schrift- und Bildgrößen, Anordnung und Proportionen den jeweiligen Endgeräten an und  bieten moderne Navigations- und Weiternutzungsoptionen. Das kommt dem Lesekomfort zugute – funktioniert allerdings auch noch nicht bei allen Inhalten. Das soll sich ändern und hierfür verspricht Apple den Verlagen hilfreiche Software-Werkzeuge und Workflows, dazu ein einheitliches Dateiformat, um ihnen den Einstieg schmackhafter zu machen. Wann und ob Apple News+ in Deutschland startet, ist noch offen, zumal deutsche Verlage sich bisher sehr distanziert zeigten.

Wie sinnvoll sind Bundling und Flatrate für Zeitungen?

Nimmt man die zwei näher vorgestellten Plattformen als real existierende Angebote für ein markttaugliches „Journalismus-Streaming“ lässt sich die Frage stellen, was Verlage generell von einem „Netflix“ oder „Spotify“ für Journalismus halten und was sie von vorhandenen oder kommenden Anbietern erwarten.

Nach Aussagen von Enrique Tarragona, Geschäftsführer von Zeit Online, steht sein Haus titelübergreifenden Flatrate-Angeboten überaus kritisch gegenüber, wie er auf meine Anfrage erklärt: „Zum einen profitiert naturgemäß immer derjenige, der viel Content zu günstigen Preisen erstellen und einspeisen kann, während Qualitätsanbieter aufgrund ihrer Markenbekanntheit zwar gut für das Marketing der Plattform sind, am Ende aber nur einen kleinen Share bei den Umsätzen zu erwarten haben. Zum anderen sehen wir doch gerade bei Netflix & Co., dass – im Gegensatz zu den inhaltlich weitgehend austauschbaren Musikstreaming-Plattformen – gerade das Angebot exklusiver und eigens produzierter Inhalte das eigentliche Erfolgsrezept darstellt.“

Aus diesem Statement könnte man rückschließen, dass „Die Zeit“ sich allenfalls selbst als Plattformbetreiber betrachtet und dann womöglich andere Titel – auch anderer Verlage? – mit in ein Flatrate-Portfolio nähme. Das hat Tarragona allerdings nicht gesagt. Vielmehr bekräftigt er, dass es keine konkreten Pläne gebe, die Zeit-Inhalte bei einem Flatrate-Aggregator einzuspeisen. 

Auch die Funke Mediengruppe verschwendet derzeit wohl wenig Gedanken damit, sich zukünftig weiter an Sammel-Plattformen zu beteiligen. Mit Readly hätten die Zeitungen des Hauses es probiert, sagt Marcel Pfeifer, Vertriebschef für Tageszeitungen bei Funke, im Interviewgespräch. Doch das habe nicht gut geklappt – vor allem weil bei Readly hauptsächlich Zeitschriften und Magazine stattfinden, kaum Zeitungen. Und mit diversen Klatsch- und Boulevard-Magazinen ist Funke sehr zahlreich auf Readly vertreten. Ebenso wie die Bauer Media Group, die etliche ihrer Titel auf der schwedischen Flatrate-Plattform einspielt. Meine Fragen nach Zielen und Bewertungen der Readly-Präsenz wollte das Medienhaus aber nicht beantworten, und bat für diesbezügliches Schweigen um Verständnis.

Für die Zeitungssparte der Funke Mediengruppe hingegen läge der Fokus derzeit darauf, den LeserInnen noch mehr Komfort beim anmelden und lesen zu bieten, sie sollen zu einem guten Tarif entweder Abonnements oder auch einzelne Artikel erwerben können. Nach und nach sollen die zur Gruppe gehörenden regionalen Tageszeitungen die gleichen Technologien mit den gleichen Abläufen einsetzen, darin läge viel Synergiepotenzial für die Holding, so Pfeifer. Ähnlich agiert unter anderen auch die Westdeutsche Zeitung und führt individualisierte Digital- Abos ein.

Doch was für Zeitungen gilt, scheint für Zeitschriften und Magazine gerade umgekehrt zu funktionieren, zumindest nach Aussagen der erwähnten Flatrate-Plattform Readly: „Wenn es um den Vertrieb digitaler Zeitschriften geht, werden wir von vielen Verlagen als eine bedeutende Quelle für digitale Einnahmen angesehen“, so Readly-CEO Maria Hedengrens auf meine Anfrage. Wie sehr das auch die seit kurzem verfügbaren Sonntagszeitungen von Springer gelte – Welt am Sonntag, Bild am Sonntag, BZ am Sonntag – wollte Readly nicht sagen, sie „kommunizieren die Bilanz nicht in Zahlen“, so Hedengrens.

Regionalität und Kundenbeziehung

Das Bundling von Zeitungen ergebe für Funke-Manager Pfeifer wenig Sinn:„Regionale Inhalte klicken immer nur regional.“ Mehrere regionale Zeitungen in einem Portal zu vereinen, das erschließe sich ihm nicht. Allenfalls bei überregionalen Titeln könnte das womöglich funktionieren. Daher sehe er für die Funke-Gruppe mit ihren derzeit 13 regionalen Titeln keinen Bedarf und auch keine übergreifende Flatrate kommen.

Zudem, so Pfeifer, würde ein Verlag einem Journalismus-Streamer, wie Apple News+ oder anderen, eine wichtige strategische Position verschaffen, indem dieser die Nutzungsdaten und -gewohnheiten sammeln und mit Hilfe dieser Erkenntnisse die Kundenbeziehung steuern könnte. Genau dieselbe Skepsis äußerten auch die deutschen Verlegerverbände. Diese Distanzierung erscheint auf den ersten Blick plausibel – doch ist sie es?

Was wussten und wissen Verlage denn vom Leseverhalten ihrer Abonnenten oder den Kioskverkäufern der gedruckten Zeitung? Sind hier nicht die Kioskbesitzer externe Wissensträger?  Und was wissen Verlage von den LeserInnen der massenhaft kostenlos in Flugzeugen und Lounges ausgelegten „Bordexemplare“? „Ja, das stimmt“, gibt Pfeifer zu. Doch auch in diesen Umfeldern würden sich Verlage stets bemühen, Kioskkäuferinnen und Gratisleser zu Abonnenten zu machen. Da sich heute aber alles im Netz abspiele, das neue und immer ausgefeiltere Möglichkeiten mit sich bringe, müsse man hier Datenhoheit anstreben. Es ließe sich heute genau beobachten, wie Themen und Stories angenommen würden, welche davon zum Verweilen oder weiteren Aktivitäten führen, wie man Kundenansprache und Journalismus verbessern könne, wann Interessenten wiederkommen und zu Stammkunden „konvertieren“. Zwar würde Readly durchaus gewisse Daten liefern, doch am Ende würden die Verlage mit ihren Inhalten vor allem die Streamingplattformen stark machen – nicht umgekehrt, so Pfeifer.

Aus Sicht von Readly sei aber der Zugriff auf Lesedaten gerade der Clou der Plattform, so CEO Maria Hedengrens: „Neben den zusätzlichen Einnahmen aus digitalen Zeitschriften haben de Verlage Zugriff auf einen einzigartigen, noch nie dagewesenen Datenpool über das Leseverhalten, wie zum Beispiel, was, wann oder wie lange der Nutzer liest. Bisher hatten die Verlage nur begrenzten Zugang zu solchen Daten und Erkenntnissen. Den Verlegern wird die Möglichkeit geboten zu analysieren und zu verstehen, wie ihre Inhalte täglich konsumiert werden. Diese Ergebnisse können Verlegern von Zeitschriften helfen, die Art und Weise, wie die Inhalte kuratiert werden, zu verbessern. Zusätzlich erhöht ein Titel auf Readly die Zahlen der Verlage in Bezug auf Reichweite und Auflage, was dabei hilft, die Werbeeinnahmen zu halten.“

Kuratierung und Erlöse

Interessanterweise sieht sich Readly primär als „Tech-Unternehmen, das mit Verlagen zusammenarbeitet, um Zeitschriften zu digitalisieren. Wir sind ein Vertriebskanal und eine Datenquelle“, so Hedengrens. Gleichwohl arbeiten sie daran, die Leser auch inhaltlich auf ihrer Plattform zu navigieren: „Wir haben ein Empfehlungssystem, das auf KI-Technologien basiert und den Lesern hilft, noch mehr Inhalte zu entdecken, die sie interessieren.“

In dieser Hinsicht geht Apple noch einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung „humanoider Kuratierung“. Als die Kalifornier im Frühjahr ihre Journalismus-Plattform News+ auf der großen Bühne präsentierten, stellten sie als einen besonderen Vorteil heraus, dass dort echte Redakteurinnen und Redakteure dafür zuständig seien, aus den aggregierten Artikeln, Stories und Stücken die interessantesten oder relevantesten auszuwählen. Dieses tägliche kuratieren soll das Apple-Newsportal dann abheben von sozialen Netzwerken und Suchmaschinen (Facebook, Twitter, Google News) oder auch Social Readern (Flipboard), bei denen News und Stories lediglich anhand von Algorithmen, Nutzerpräferenzen oder zeitlichem Eintreffen sortiert und platziert werden. Für die an Apple liefernden Verlage sei es dann Auszeichung und Ansporn zugleich, wenn die Apple-Kuratoren ihre Geschichten besonders featuren – und so Reichweite und Marktwert erhöhten. So zumindest stellt Apple sich das vor, weil es genau so bereits in seinen Online-Stores für die Digitalwaren Apps, Hörbücher, Filme und Musik funktioniere. Warum nicht auch für digitale Journalismus-„Waren“?

„Ich glaube fest an die Rolle einer Redaktion bei der Auswahl und Kuratierung von Inhalten“, sagt  dazu Zeit Online Geschäftsführer Enrique Tarragona. Doch „in dem Moment, in dem ein titelübergreifender Kiosk sich der Inhalte verschiedener Medien bedient und diese wiederum auf einer Seite darstellt, übernimmt er diese redaktionelle Aufgabe. Ich habe allerdings große Zweifel daran, dass diese entscheidende journalistische Aufgabe dort gut aufgehoben ist. Es gibt schließlich gute Gründe, warum dieser Job bei jedem ernst zu nehmenden Titel auch nicht beim Geschäftsführer, sondern beim Chefredakteur liegt. Ich sehe es eher als Risiko, wenn sich ein Plattformanbieter einfach bei den Inhalten verschiedener Redaktionen bedienen kann und daraus quasi seinen eigenen ‘Titel‘ bastelt, vor allem, wenn er dabei nicht journalistischen Leitlinien folgen muss, zum Beispiel hinsichtlich der Ausgewogenheit seiner Berichterstattung etcetera.“

Nicht zuletzt spielt für die Medienhäuser natürlich eine Rolle, wieviel von den 10 Euro Abonnementgebühren bei Verlagen ankommt und wieviel sich der Plattformbetreiber einbehält. Apple will rund 50 Prozent der Umsätze an die Contentanbieter weiterreichen beziehungsweise ausschütten. Damit sind US-amerikanische Verlage schon jetzt nicht unbedingt glücklich. Bei Readly sollen bis zu 70 Prozent an die Verlage gehen, die Schweden rechnen nach eigenen Angaben einzelne Klicks und Zugriffe ab. 

So oder so: Man braucht nicht viel Mathematik, um sich auszurechnen, dass von 10 Euro Abonnementgebühr nur sehr, sehr wenig bei einem Verlag landet: wenige Cents, wenn überhaupt. Gewiss könnten es bei einer Streamingplattform Millionen Abonnenten sein, die die Mikrocents zu mehrstelligen Eurobeträgen multiplizieren würden. Aber ist das für einen deutschen, national, regional oder gar nur lokal agierenden Verlag attraktiv? Stehen Aufwände und Erträge in einem darstellbaren Verhältnis? Die Einschätzungen der Verlage lassen vermuten: Eher nicht.

Werden Plattformen „die Paywalls kapern“?

Und doch sehen sie sich der Erwartungshaltung von NutzerInnen gegenüber, für die „üblichen“ 10 Euro die Inhalte eines ganzen, na gut, wenigstens eines halben Zeitungskiosks lesen zu dürfen, wo immer, so lange und so oft sie wollen. Diese Erwartungshaltung lässt sich vermutlich nur solange ignorieren, bis die ersten Erfolgsmeldungen von einem oder mehreren Verlagen über passable Reichweitenzuwächse und ordentliche Erlöse zu lesen sind. Zudem werden Apple und Readly nicht die einzigen mit Begehren und Offerten bleiben, der Marktdruck könnte wachsen. Überhaupt wollen die großen Plattformen offenbar „die Paywalls kapern“. Die Telekom scheint sich bezüglich Journalismus-Streaming schon länger warm zu laufen, hat nun eine eigene, journalistisch arbeitende News-Redaktion. Und dass Amazon-Chef Jeff Bezos die Washington Post kaufte, sollte man nicht als Extravaganz eines Multimilliardärs abtun. Die „Post“ taugt allemal als Zugpferd, um in das bereits jetzt vielfältige „Prime“-Portfolio auch eine Schiene für „gestreamten Journalismus“ aus eigenem und anderem Hause legen zu können. Kürzlich meldete Facebook eine neuerliche Strategiewende bezüglich journalistischer Inhalte und dass sie im Herbst einen separaten Feed für Nachrichtenartikel einführen wollen. Das alles zusammen nennt man wohl einen Markt in Bewegung.

Es soll nicht vergessen werden, dass es an Spotify, Netflix und anderen großen Streamingplattformen berechtigte Kritik gibt: Sie würden viel zu wenig an die Rechteinhaber und diese noch viel weniger an die Urheber weiterreichen, weil 10 Euro monatlich einfach zu billig ist; dass die Algorithmen-gesteuerten Gewichtungen der Inhalte zu leicht manipulierbar sind. Doch ob Verlage und Medienhäuser ihre Skepsis gegenüber den großen Plattformen ablegen und ob sie ihren in vieler Hinsicht besonderen „Content“ Journalismus besser zu „verkaufen“ vermögen, um mehr für sich, ihre MitarbeiterInnen und Zulieferer mehr herauszuholen, wird in den kommenden Monaten spannend zu beobachten sein. Womöglich können sie dabei auch das Preisniveau für eine Flatrate nach oben verschieben?

Und was, wenn doch?

Tatsächlich wollen die Verlage wohl nicht ganz ausschließen, den Aggregatoren eine Chance zu geben:„Kann sein, dass beispielsweise Apple News+ für uns einer von mehreren digitalen Vertriebswegen sein wird“, sagt Marcel Pfeifer für die Funke Mediengruppe. „Aber um unseren Journalismus finanzieren zu können, muss unser Hauptfokus sein, die zahlenden Kunden direkt an den Verlag zu binden, viele direkte Abonnements zu bekommen.“ Seine Management-Kollegin Ruth Betz, bei Funke verantwortlich für „Digitale Transformation“, erklärt, dass der Verlag nicht mehr in Endgeräten sondern nur noch in Kundenwünschen denke: „Wo immer die Kunden unsere Inhalte lesen wollen, ob auf der Webseite, in einer App oder als E-Paper, wollen wir ihm dies ermöglichen.“ Schließt das Aggregation aus?

Für Zeit-Online seien Flatrate-Anbieter aus genannten Gründen aktuell kein Thema, sagt mir Zeit Online-Geschäftsführer Enrique Tarragona: „Der Erfolg der letzten Jahre beim Paid Content ist nicht durch irgendwelche Plattformen zustande gekommen, sondern resultiert vor allem aus dem Wachstum unserer eigenen Angebote.“ Doch auch er ergänzt: „Sofern die Konditionen stimmen und die Plattform uns den Zugang zu einer Zielgruppe ermöglicht, die wir so nicht selbst erreichen können, schauen wir uns das gerne näher an.“

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