Schulbuch des Jahres – Preis ohne Zukunft (?)

Am 16. März prämieren Experten erstmals die „Schulbücher des Jahres“. Doch mit ihrer bewussten Einschränkung des Preises auf Druckwerke – sozusagen Bücher der „alten Schule“ – blicken die Ausrichter allenfalls in die Gegenwart der Schulmedien, nicht aber in deren Zukunft: die ist zweifellos digital und längst in vollem Gang.

Schuld ist die Stiftung Warentest. Als diese unlängst auch mal aktuelle Schulbücher ihren Begutachtungen unterzog, rief dies die Schulbuchforschung auf den Plan: „Wir dachten dann: Schulbücher sind doch keine Kühlschränke oder Shampoos. Und das brachte uns auf die Idee mit dem Preis“, erklärt Simone Lässig, Direktorin des Preis-vergebenden Braunschweiger Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung. Ergo sollen nicht die Verbraucher-Aufklärer ran an die Schulbuch-Materie, sondern Experten: eine Fachjury aus Didaktikern, Lernpsychologen und Bildungsmedienprofis. Denn es geht wohl um‘s Ganze: „In der Öffentlichkeit herrscht mehrheitlich die Schulbuchschelte vor, Lob zu gelungenen Werken gibt es selten“, so Institutsleiterin Lässig, zugleich Vorsitzende derSchulbuchpreis-Jury. Was nicht gerecht sei, denn die Schulbuchverlage hätten es schon schwer genug: „Da ist die Politik, die Einfluss nehmen will. Da sind die Lehrer, die wollen mit den Büchern arbeiten. Den Schülern sollen die Bücher Spaß machen. Und die Verlage wollen damit Geld verdienen. Diese Ansprüche kann man selten alle erfüllen“, erklärte Karl-Heinrich Pohl, Professor für Geschichts-Didaktik an der Universität in Kiel. Er ist seitens der Bildungsforschung in der Schulbuchpreis-Jury vertreten und saß bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Schulbuchpreises in Berlin mit auf dem Podium. Allein der Pisa-Schock: Es habe Jahre gebraucht, bis die Erkenntnisse daraus in den Bildungsstandards Niederschlag fanden, und erst dann konnten die Schulbuchverlage sie umsetzen. Auch deshalb seien die Schulbücher zwangsläufig „sehr träge Medien“, die rund fünf bis zehn Jahre „in Betrieb“ seien, hiess es während der Pressekonferenz. Zudem wären sie hohen Gebrauchsbelastungen ausgesetzt, was die Produktion aufwändiger mache.

Man bekam fast Mitleid. Das alles klang fast so, als ginge es nicht um gesunde Wirtschaftsunternehmen, als die man die derzeit 70 deutschen Schulbuchverlage doch bezeichnen kann. Vielmehr hörten sich die Schulbuchexperten an wie Verwandte und Pflegepersonal, die geradezu wehleidig über einen ebenso mächtigen wie gebeutelten und empfindlichen Patriarchen redeten, dem man auf seine alten Tage nicht mehr allzu viel zumuten will. Dabei hatte er genug Chancen, das Geschäft als solches den modernen, neumedialen Zeiten anzupassen. Doch von digitalen Medien, elektronischen Büchern, vernetzten Lernumgebungen und computerisierten Klassenräumen redete auf der Pressekonferenz niemand – nicht einmal die Vertreter der Leipziger Messe, Partner des Preises und Ausrichter der Preisverleihung am 16. März auf der Leipziger Buchmesse. Dabei will der Schulbuchpreis ausdrücklich „Anreizprogramm“ für Innovationen sein. Zwar sieht er die wesentlichen Innovationen richtigerweise im inhaltlichen Konzept: „Ein innovatives Element von Schulbüchern ist die Förderung von fachübergreifendem Denken. Dazu kommt der Lebensweltbezug, die Schüler müssen in ihrer Wirklichkeit abgeholt werden.“ Ein Beispiel dafür wäre ein Chemiebuch, das von Alltagsbeobachtungen ausgehe und diese aufgreife. Anhand dieser und weiteren, eher „handwerklichen“ Aspekten entstand die sogenannte, kürzlich veröffentlichte Kurzliste. Von insgesamt 34 Einsendungen kürte die Jury acht Titel in den Kreis der Aspiranten, in den drei Fächergruppen „Geschichte und Gesellschaft“, „Sprachen“ und „MINT“ (Mathematik/Informatik/Naturwissenschaften/Technik).

Doch bei allem Willen zur „Innovation“ bleibt die Frage, weshalb dieser nagelneue Schulbuchpreis allein gedruckte Werke begutachtet: Wieso beschäftigt er sich in keiner Weise mit digitalen, interaktiven und vernetzten Lernmedien? „Neue Studien zeigen“, heisst es in der Pressemitteilung zum Schulbuchpreis, „dass sich das oft totgesagte Genre Schulbuch als äußerst lebendig erweist und weit über seinen eigentlichen Wirkungskreis Schule hinaus öffentliche Aufmerksamkeit in Politik, Medien und Gesellschaft findet.“ Und noch deutlicher drückte es Schulbuchforscherin Simone Lässig auf der Pressekonferenz in Berlin aus: „Die Realität in Deutschlands Schulen ist das gedruckte Buch und das wird sich nicht ändern, nicht in zwei, nicht in fünf Jahren“. Auch der anwesende Didaktik-Professor Karl-Heinrich Pohl meinte, die gedruckten Schulbücher würden in den Schulen nach wie vor zuerst genutzt, sie seien sogar die heimlichen Lehrpläne der Lehrer. Was mittelschwer erstaunt, im Jahr 19 des World Wide Web: Das Internet als Lernraum nur ein Schatten am Horizont? Und das im Jahr 2012 – in dem sich 27 deutsche Schulbuchverlage zumindest genötigt sahen, auf die Entwicklung bei elektronischen Büchern, einen diesbezüglichen Vorstoß von Apple und das Standardformat ePub mit einer „Lösung für Digitale Schulbücher“ zu reagieren (deren konkrete Umsetzung bisher völlig unklar ist).

Kann es sein, dass die Schulbuchexperten mit diesem Ansatz einen stetig wachsenden Teil nicht nur der „Lebenswirklichkeit“ sondern auch der Lernwirklichkeit von Schülern schlichtweg ignorieren? Der Umgang mit vernetzten Personal Computern, Smartphones, Ebook-Readern und Tablets, der Gang zu Wikipedia, YouTube und Google, das Lernen auf Webseiten, mit interaktiven Programmen und fokussierten „Apps“ gehört doch längst zum Schüler-Alltag, momentan mindestens ab Klassenstufe 5 aufwärts, womöglich auch schon früher. Und diese schnell adaptierten Lernkulturtechniken finden keineswegs nur beim „Nachmittags-Lernen“ oder als „Freizeit-Spielereien“ Anwendung, sondern mehr und mehr beim schulischen Lernen: Lehrer, die aktive Web-Recherchen in die Hausaufgabe hinein formulieren; Lehrer, die für das kleine Referat – als Powerpointpräsentation auf dem USB-Stick – das Wissensschürfen in Netzangeboten erlauben oder erwarten. Zudem ist – nicht nur in Gymnasien – das Ende der „Kreidezeit“ längst ausgerufen, sind grüne Tafeln und müffelnde Putzschwämme schon jetzt vielerorts passé. Die Umrüstung der Klassenzimmer auf digitale Projektionswände und interaktive Multimedia-„Boards“ schreitet voran – wieso sollte diese Entwicklung ausgerechnet das gute, alte – oder bald schlechte alte? – gedruckte Schulbuch unverändert lassen? Müsste angesichts dieser rasanten Umbrüche im Lern- und Kommunikationsalltag von Schülern, Eltern und Lehrern das Schulbuch nicht seine anachronistischen Konventionen sprengen, denen es als alle fünf bis zehn Jahre erneuertes, schweres, lineares und analoges Papierbündel unterworfen zu sein scheint? Oder geht (gute) „Didaktik“ etwa nur in geschlossenen Räumen, ergo in einem gedeckelten Papierbuch?

Wie oben gesagt, es geht um‘s Ganze: Eine unmittelbare Digitalisierung der Bücher, wie sie derzeit gedruckt vorhanden sind, könnte schon mal die Rücken der Kinder entlasten und die Effizienz bei der interaktiven Nutzung der Inhalte erhöhen. Mit einer weitergehenden, didaktisch-konzeptionellen Segmentierung und Vernetzung der Inhalte liesse sich das knitterige Schulbuch zum Blättern wieder auf Augenhöhe bringen mit den von Schülern als höherwertig betrachteten Multimedien zum Klicken und Wischen. Es geht hier nicht um Technikgläubigkeit oder Netzwerkfetischismus. Zweifellos lauern beim Lernen mit und in den Netzquellen auch viel Zerstreuung und schnelle Fehldeutung, ungesunde Übersättigung und destruktiver Verdruss. So wie bei jedem Lernen. Doch gerade deshalb sollte das „Schulbuch“ als digitaler, interaktiver, vernetzter Lern-Lotse, als Mentor bei der klug geführten Wissensaneignung keine Vision für 2020 mehr sein. Und selbstredend arbeiten Lernreformer doch spätestens seit es das Internet gibt, also über zwei Jahrzehnte, an neuen Konzepten – die in anderen Ländern längst zum Lernalltag gehören. Von einer ganz neuen Auszeichnung, die explizit Innovation und Wagnis anregen will, und die Schulbuchverleger „mit auf den Weg nehmen will“ (Karl-Heinrich Pohl), ist daher unbedingt mehr zu erwarten: Ein solcher Schulbuchpreis sollte sich nicht nur einer verblassenden Gegenwart gedruckter Lernwerke widmen, sondern die Weitsicht zeigen, ausdrücklich jene zu prämieren, die die Zukunft schon jetzt definieren und gestalten. Denn diese Zukunft hat doch schon lange begonnen, das ist nicht erst seit dem überraschenden Vorstoß von Apple klar, mit dem das Erstellen UND Publizieren multimedialer, interaktiver und vernetzbarer Lernmedien noch einmal erheblich zugänglicher wurde. Das dürfte auch der Stiftung Warentest nicht entgangen sein. Die tut gewiss gut daran, nicht nur Ebook-Hardware zu testen, sondern gewiss auch speziell dafür produzierte, adäquate Lerninhalte.

Schulbuch des Jahres, Kurzliste: www.gei.de/stipendien-und-praktika-stipendiaten-preise/schulbuch-des-jahres/kurzliste.html

Schulbuch des Jahres, Preisverleihung: www.schulbuch-des-jahres.de/index.php?id=5077

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