Stephan Rammler: „Transparenz bedeutet ein Höchstmaß an Widerstandsfähigkeit“

Prof. Stephan Rammler, Mobilitäts- und Zukunftsforscher. Foto: Nicolas Uphaus

Erdöl war die treibende Kraft für Mobilität und Fortschritt des 20. Jahrhunderts, sagt Mobilitäts- und Zukunftsforscher Stephan Rammler. Im 21. Jahrhundert würden diese Rolle die digitalen Technologien übernehmen. Doch was bei der Ölverbrennung die Gefahren für die Umwelt sind, sind bei der Informationsverarbeitung die für den Datenschutz.

Stefan Rammler ist Professor am Braunschweiger Institut für Transportation Design und Referent und Podiumsgast einer Veranstaltung des Bundesverbands der Verbraucherzentralen (VZBV), die unter dem Titel „Smarte neue Verbraucherwelt?“ am 13. März in Berlin stattfindet. Aus diesem Anlass sprachen wir mit ihm über digitale Perspektiven und Risiken für die Mobilität.

iRights.info: Herr Professor Rammler, welche Rolle spielen digitale Technologien und Datenverarbeitung für die Mobilität der Zukunft?

Stephan Rammler: Mobilität ist ja nicht nur einer der prominentesten Bereiche, in denen digitale Technologien eingesetzt werden. Vielmehr kann man dort schon jetzt viele unterschiedliche Wirkprinzipien oder Einsatzgebiete feststellen. Ich würde sechs unterscheiden: Erstens, die Automatisierung oder auch Autonomisierung, die Robotik. Darunter fallen das autonome und teilautonome Fahren, die Fahrerassistenzsysteme. Das Auto wird immer mehr zum rollenden Computer, zumal die neuen Technologien der Elektromobilität dafür sorgen, dass beide Trends miteinander konvergieren. 

Zweitens, die Vernetzung. Ich blicke auf die Mobilität aus der Perspektive der Nachhaltigkeit, und für mich ist die sogenannte Intermodalität eine der erfolgversprechendsten verkehrspolitischen Strategien der Zukunft. Dabei geht es darum, nicht mehr mit einem Verkehrsmittel alles zu machen – wie bislang in europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften mit dem eigenen Auto – sondern die Verkehrsträger auf eine intelligente Art zu vernetzen, je nach ihren Vor- und Nachteilen. Das ist keine neue Idee und meint Leihfahrrad-Systeme, Carsharing und die Gestaltung von Übergängen zwischen den Verkehrsmitteln. Die digitalen Medien sind technische Integratoren für den Informationsabgleich, schaffen Übergänge und übernehmen Abrechnungen – und ermöglichen so eine nahezu übergangslose Mobilität.

iRights.info: Also das gute alte „Park & Ride“ in moderner, vielfältigerer Form?

Stephan Rammler: Naja, es geht uns ja um die Rolle der digitalen Informations- und Datenverarbeitungstechnologien. An Vernetzung haben wir als Mobilitätsforscher schon vor 15 Jahren gedacht, wir sprachen damals von einem sogenannten Personal Travel Assistent, kurz PTA. Allerdings wussten wir noch gar nicht, wie der aussehen sollte. Mittlerweile gibt es diese Technologie, das ist das Smartphone mit seinen verschiedenen Apps.

Als drittes Wirkprinzip sehe ich die Navigation. Sie ist für Mobilitätsprozesse ein extrem wichtiger Bereich, der hinter den Debatten um Antriebstechnologien und Infrastrukturen vernachlässigt wird. Je einfacher die Navigationsprozesse, desto mehr kann ich die Mobilität optimieren, auch in nachhaltiger Hinsicht.

iRights.info: Weil sie Verkehrswege im Idealfall reduziert?

Stephan Rammler: Ja, genau. Viertens, Information und Unterhaltung. Also, vorab Informationen darüber, wie ich den optimalsten oder für mich angemessensten Weg finde, oder unterwegs, wenn geplante Mobilitätsabläufe gestört werden, etwa durch Stau oder Zugverspätungen. Idealerweise gibt mir dieses Gerät entsprechende Informationen zur Hand, wie ich diesen Engpass umgehen kann, indem es mir rechtzeitig alternative Wege oder Verkehrsträger übermittelt.

Fünftens, die Virtualisierung der Mobilität. Gemeint ist die Substitution von Verkehren: Wie kann ich Mensch-zu-Mensch-Interaktionen durch Telepräsenz ersetzen und damit Verkehrsaufwand minimieren, etwa durch Video- und Telekonferenzen. Auch das war lange technologisch schwierig, ist es mittlerweile gar nicht mehr, sondern nur noch eine Kostenfrage. Ich glaube, hier geht es in Richtung Telemedizin, Telecommuting, Tele-Arbeit, Tele-Lernen – Stichwort Massive Open Online Courses (MOOCs) – , aber auch hin zu Tele- oder Cyber-Tourismus …

iRights.info: … das Leben in der Matrix virtueller Realitäten …

Stephan Rammler: Nein. Dass wir nur noch fortbewegungslos miteinander interagieren und alles andere über das Netz läuft, das glaube ich auch nicht. Es wird immer noch ein hohes Maß an Mobilität geben und in Teilbereichen auch eine konvergente Entwicklung von Telekommunikation und Mobilität, aber substitutive Prozesse werden auch eine Rolle spielen.

Und sechstens, Diskurs und Meta-Diskurs: Wie reden wir eigentlich über über Mobilitätsmöglichkeiten, über neue Fahrradverleihsysteme, über neue Apps und so weiter. Ein Abgleich zwischen Herstellern, Anbietern und Nutzern und neuen Nutzern ist heutzutage viel leichter möglich, auch als diskursiver Austausch. Früher lief das immer marktvermittelt zwischen Anbieter und Nutzer ab, heute passiert über eine professionelle Schnittstelle viel von privat zu privat, und damit verbindet sich auch das Ausprobieren neuer Möglichkeiten.

iRights.info: Sie werden in Ihrem Vortrag vom „digitalen Treibstoff der Mobilität“ sprechen – was meinen Sie damit?

Stephan Rammler: Ich beziehe mich damit auf fossile Treibstoffe. Man kann sagen, dass das 20. Jahrhundert massiv angefeuert wurde vom fossilen Treibstoff Erdöl. Große Teile der modernen Welt, wie wir sie heute kennen, würden zumindest in Westeuropa und Nordamerika anders aussehen, wenn wir das Erdöl nicht gefunden hätten. Das Besondere am Erdöl ist ja seine enorme Energiedichte. Und das große Problem aller Alternativen, die wir im Augenblick diskutieren – ob nun Brennstoffzelle oder Wasserstoff oder Batterie – ist letztlich die Verdichtung der Energie. Da kommt nichts auch nur in die Nähe eines Liter Erdöls.

Doch in dem Augenblick, wo das Erdöl knapp wird oder wo es knapp werden muss, weil die Begleiteffekte so massiv zunehmen – Stichwort Klimawandel durch CO2-Emissionen fossiler Antriebe und Treibstoffe –, stellt sich die Frage, was an die Stelle dieses mobilitätsbeschleunigenden Treibstoffs treten kann.

Hier kommen wir zur These: Die digitale Mobilität könnte hinsichtlich Automatisierung, Vernetzung, Optimierung und Substitution von Mobilitätsprozessen möglicherweise geeignet sein – in Kombination mit realen Treibstoffen, wie Elektrizität oder Wasserstoff – Mobilität auf einem funktional mit dem heutigen Zustand vergleichbaren Niveau zu ermöglichen. Aus der Mischung von Digitalität und regenerativen Technologien entsteht der Treibstoff der Mobilität des 21. Jahrhunderts.

iRights.info: Wenn die Probleme des Erdöls in Emissionen und Umweltbelastungen liegen, bringt dann der neue Treibstoff „Digitalität“ nicht auch Probleme mit sich, etwa bei Datensicherheit oder Persönlichkeitsschutz?

Stephan Rammler: Ganz klar, das sind die Schattenseiten: Missbrauch von Big Data, die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die Geolokalisierung und das Tracking – also die Möglichkeiten, unsere Bewegungen und Aktivitäten quasi lückenlos speichern und nachvollziehen zu können. Der Einsatz digitaler Medien wirft die Frage auf, wie sich die Gesellschaft damit arrangiert oder wie sie bestimmte Sicherheitspforten einbaut. Dies betrifft beispielsweise digitaltechnisch gestützte Abläufe im Energiesektor, etwa bei der „Smart Grid“-Technologie.

Die Gesellschaft macht sich extrem abhängig von diesen Technologien, und die These wäre hier: „Alle Räder stehen still, wenn’s der böse Hacker will.“ An so einer Welt sind wir nah dran. Ich nehme mal als Beispiel, dass im Grunde alle Fahrzeuge mit Ferndiagnose-Systemen permanent online sind. Wenn es jetzt einem Hacker oder einer Hacker-Vereinigung gelingen würde, die Ferndiagnose-Systeme von BMW, Daimler oder GM oder wem auch immer zu hacken, oder die Navigationssysteme der Luftverkehrsüberwachung… Daher wird es viel um die „Resilienz“ gehen, also um die Widerstandsfähigkeit oder auch Belastbarkeit einer Gesellschaft gegenüber dieser Gefahr. Oder auch um Toleranz eines Systems gegenüber Störungen.

iRights.info: Ergibt sich aus den Anforderungen an digitale Mobilität einerseits – Tracking, Echtzeit-Navigation, lernende Systeme – und an den Persönlichkeitsschutz andererseits ein Widerspruch?

Stephan Rammler: Die Frage ist ja, was der Nutzer will, und da bin ich wahrscheinlich eher auf der skeptischen Seite. Ich glaube, dass es den meisten Nutzern mehr oder weniger scheißegal ist, was mit ihren Daten passiert. Oder bislang scheißegal war. Ob sich da jetzt eine Gegenbewegung entwickelt, bleibt erstmal abzuwarten. Ich glaube eher, dass auch in Zukunft mit Daten relativ arglos umgegangen werden wird. Solange das so ist, scheint dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Da sind die Hacker-Angriffe das geringste Problem, gegenüber der Überwachung durch NSA und Staat. Da würde ich eher fragen, wo die Widerstandfähigkeit gegenüber den eigenen Regierungen und deren Kontrollwahn ist.

iRights.info: Netz-Aktivisten befürchten, dass es mit Modernisierungen, etwa von Datenschutz und Urheberrecht, viel zu schleppend vorangeht, sie längst Bremsklotz der neuen Mobilität sind.

Stephan Rammler: Ja, das ist der Unterschied zwischen dem, was theoretisch denkbar ist und dem, was realpolitisch in der Welt passiert. Ich will aber nicht als Defätist oder Apokalyptiker durch die Welt rennen. Wie andere auch denke ich, dass wirksame digitale Sicherheitsinfrastrukturen und -architekturen rein theoretisch möglich wären – wenn man sie denn wollte. Aber wie sind die Machtverhältnisse? Und hat eine kapitalistisch verfasste Ökonomie überhaupt ein Interesse daran? Ich glaube, der Lobbyismus spielt dabei eine zentrale Rolle, und die Interessen von Google und Facebook und der NSA sind wahrscheinlich sehr konvergent darin, Nutzerinteressen eben nicht zu schützen, sondern den Nutzer so gläsern wie möglich zu halten.

iRights.info: Sie thematisieren im Rahmen Ihrer Forschung auch Open Source als Konzept für die Mobilität, etwa bei der Entwicklung von Autos – ist das bereits reale Entwicklung?

Stephan Rammler: Es ist zunächst ein Gedankenspiel, aber in der Tat ist die Entwicklung dorthin bereits in Gang gesetzt. Nehmen wir das 3D-Printing oder auch das kollektive, konvergente Gestalten am Computer, 3D-Modelling. Das sind digitale Technologien, die für den Nutzer immer einfacher zu bedienen sind. Dazu kommt die immer größere Nähe zur Produktion selbst. Das waren ja früher abgeschottete Bereiche, da brauchte ich langwierige Ingenieursentwicklung, von der ersten Idee über das erste händisch hergestellte Modell bis hin zur automatisierten Produktion.

Durch die Digitalisierung ist das alles so eng aneinander gekoppelt, dass es mir sehr wohl denkbar erscheint, dass es auch im Automobilbau die individualisierte Gestaltung geben kann: Ich als Nutzer habe dann die Möglichkeit, mein Fahrzeug gemeinsam mit anderen Nutzern nach bestimmten Kriterien zu entwerfen oder zu entwickeln. Wir schicken diese 3D-Modelle und die konstruktiven Ansätze in die Fabrik, dort brechen sie das herunter und bauen das Fahrzeug in einer Kleinserie von hundert oder tausend Stück – das kann ich mir vorstellen.

Die immer stärkere Vernetzung von Konstruktions- und Produktionsprozessen, die ist jetzt schon Realität. Weltweit ist es so, auch in der Automobilproduktion, dass die Wertschöpfung stattfindet zwischen Design, Entwicklung und Produktion. Warum soll das nicht auch nach offenen Konzepten stattfinden?

iRights.info: Open Source, etwa bei Datenschutztechnologien, wird als Schutzschild-Mechanismus betrachtet, um sie unangreifbarer zu machen, weil man Defizite besser erkennen und beheben können soll.

Stephan Rammler: Transparenz ist der einzige Weg zu Sicherheit. Absolute Transparenz bedeutet ein Höchstmaß an Widerstandsfähigkeit.

Dieser Beitrag ist ein Crosspost von iRights.info vom 6.3.2014

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