Wolfgang Ullrich: „Urheberrechte für die sozialen Netzwerke gänzlich suspendieren“

Internet-Meme wie den „Technoviking“ betrachtet der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich als „Pathosformeln“ der Gegenwart, die im Zeitalter von Social Media als Medium des Gefühlsausdrucks dienen – und je nach Kontext auch zur Kunst werden können. Die Rechtsprechung hänge diesen Entwicklungen um Jahrzehnte hinterher, so erläuterte mir Ullrich im Interview für iRights.info.

iRights.info: Wie gut ist Ihnen der Fall des „Technovikings“ vertraut?

Wolfgang Ullrich: Matthias Fritsch war Student an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, an der ich damals lehrte. So habe ich seinerzeit die Auseinandersetzung mit dem von ihm generierten Internet-Mem des Technovikings mitbekommen. Das war 2008 oder 2009. Es war die Phase, als es schon ein großer Hit auf Youtube war, aber noch nicht all die Adaptionen und Variationen existierten, die später von ihm gesammelt und dokumentiert wurden.

In dieser zweiten Phase ist ja erst das passiert, was man als Internet-Mem bezeichnet: Viele Menschen weltweit fingen an, die Situation nachzustellen, bestimmte Merkmale zu übernehmen und mit Ding-Symbolen wie der Wasserflasche zu agieren.

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Hintergrund: Wie ein Mem entsteht und welche kulturellen, rechtlichen und politischen Dimensionen sich darin verbergen, schildert der Künstler Matthias Fritsch in der kürzlich fertiggestellten Dokumentation „The Story of Technoviking“. Sie wird vereinzelt in deutschen Kinos gezeigt und soll demnächst online verfügbar sein. Fritsch veröffentlichte die ursprüngliche Aufnahme eines Tänzers auf der Berliner Fuckparade, die später als „Technoviking“ bekannt wurde. Er zeigt sein „Technoviking-Archiv“ derzeit auch im Rahmen der Ausstellung „Digital // Analog: Indifferenz“ in Dresden.

Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich war als Gutachter im Rechtsstreit um die Verbreitung von Aufnahmen und Motiven des „Technoviking“ beteiligt. Das Landgericht Berlin entschied im Mai 2013 (PDF), dass der Abgebildete einen Anspruch auf Unterlassung und Schadensersatz hat. Vor kurzem wurde das Urteil rechtskräftig, weil sowohl der klagende Tänzer als auch Fritsch auf eine Berufung verzichteten. Offenlegung: Die Kanzlei iRights.Law hat Fritsch nach dem Urteil des Landgerichts über das weitere Vorgehen beraten.

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iRights.info: Waren Sie in die Arbeit von Fritsch involviert?

Wolfgang Ullrich: Nein, weder ich noch andere Dozenten haben in seine Arbeit eingegriffen. Sie war aber sicher nicht darauf angelegt, auf Youtube Erfolge zu erzielen. Matthias Fritsch macht stets deutlich, dass er das alles nur einem Zufall verdankt. Sein Video tauchte irgendwann mal auf einer Seite auf, die sehr viel Traffic hatte. Erst dann erreichte es virale Verbreitung und wurde prominent.

Richtig spannend wurde es für mich, als Fritsch anfing, die ganzen Variationen und Nachahmungen des Technoviking zu sammeln. Das war vor fünf, sechs Jahren, und damals waren Internet-Meme ein relativ neues Phänomen. Für einen Medienkünstler war es ein vielversprechendes und wichtiges Thema, einem Mem nachzugehen, es zu dokumentieren und eine Form zu finden, wie damit umzugehen ist. Ich denke, das ist Fritsch mit seinen Zusammenschnitten sehr überzeugend gelungen, die ich 2010 erstmals bei der Ausstellung Inter-cool 3.0 in Dortmund gesehen habe.

iRights.info: Später zog man Sie für das Gerichtsverfahren auch als Gutachter hinzu.

Wolfgang Ullrich: Ja, als es 2012 zur Klage wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung beim Technoviking kam, habe ich ein Gutachten erstellt. Darin versuchte ich klar zu machen, weshalb es sich beim Originalvideo um eine künstlerische Arbeit handelt und warum die Freiheit der Kunst hier höher einzuschätzen ist als die Persönlichkeitsrechte.

iRights.info: Können Sie Ihre Argumentation näher erläutern?

Wolfgang Ullrich: Der Technoviking ist bei dieser Fuckparade – einer Art Demonstration, also bei einem explizit öffentlichen Ereignis – gewollt so aufgetreten. Er hat sich von Anfang an selbst inszeniert. Und er hat ersichtlich mitbekommen, dass er gefilmt wird, hat dagegen aber nichts unternommen.

iRights.info: Das muss er aber gar nicht. Vielmehr hätte der Videofilmer um Erlaubnis für die Aufnahmen fragen müssen. Das Recht am eigenen Bild schützt seine Persönlichkeitsrechte.

Wolfgang Ullrich: Das stimmt, aber der Tänzer hat zumindest in Kauf genommen, wenn nicht sogar gewollt, dass er hier Aufmerksamkeit bekommt für das, was er tut. Vielleicht hat ihn die Kamera sogar noch dazu stimuliert, das ist zumindest nicht auszuschließen.

Ich kann aber nicht erkennen, dass er von sich aus etwas getan hätte, um seine Persönlichkeit und seine Identität zu schützen. Insofern kann ich seine Klage bezüglich einer Persönlichkeitsverletzung nicht nachvollziehen, zumal er diese erst Jahre nach dem Hype um das Mem erhob, das fand ich unglaubwürdig.

„Technoviking wird als Kunstfigur wahrgenommen“

Ich weiß auch nicht, ob er vor Gericht Beweise dafür vorgelegt hat, wie er diskriminiert oder eingeschränkt wird und sein Leben dadurch ändern muss oder ob das nur eine Behauptung blieb. Seine Forderungen nach Beteiligung an den Werbeeinnahmen, die Matthias Fritsch mit dem Video auf Youtube erzielte, finde ich hingegen nachvollziehbar. Der Tänzer sieht sich nicht zu Unrecht als Mit-Urheber des Hypes.

iRights.info: Darauf ist der Filmer eingegangen. Dann kam es zum Streit über die Berechnung und die Summe.

Wolfgang Ullrich: Was meiner Auffassung nach aber viel wichtiger in diesem Fall ist: Die Selbstdarstellung des Technoviking wurde durch den Film und das, was danach kam, mehr und mehr verkünstlicht. Der Technoviking wird im Internet eher wie eine Kunstfigur wahrgenommen, etwa wie Lara Croft, und nicht als eine real existierende Person, deren Identität man eigens nachgehen würde.

Das heißt, es geht bei diesem Mem gar nicht um eine bestimmte Person, deren Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Der reale Name des Technoviking ist nirgends genannt, er taucht weder mit seinem Lebensort noch mit irgendetwas Persönlichem auf. Der Technoviking ist ein globales Phänomen, er erreicht Menschen in Japan, Israel und Brasilien, die die Sache nachstellen. Und ich wette, keiner von denen kennt den Namen oder den Ort des Vorbilds. Insofern gibt es zwischen dem, was im Internet zu sehen ist, und der real lebenden Person keine Verbindung mehr.

iRights.info: Das Gericht sah in dem Film von Fritsch keine Kunst, weil er bloßes Abfilmen sei. Daher könne sich der Künstler auch nicht auf die Kunstfreiheit berufen. 

Wolfgang Ullrich: Ich halte den Originalfilm sehr wohl für eine künstlerische Arbeit und nicht nur für etwas simpel Abgefilmtes. Es ist eine nicht unerhebliche Leistung gewesen, in dieser angespannten Situation, die jederzeit hätte eskalieren können, so cool zu bleiben, die Kamera mit ruhiger Hand zu führen und den Technoviking in einer Art und Weise zu filmen, die so suggestiv wirken konnte.

iRights.info: Das erinnert aber eher an die Arbeit etwa eines Bild- oder Fernsehreporters, der etwa beim Eskalieren einer politischen Demonstration dran bleibt und die Kamera drauf hält.

Wolfgang Ullrich: Da haben Sie Recht, das würde ein guter Dokumentarfilmer oder ein guter Fernsehjournalist auch so hinbekommen. Ich sehe bei Fritsch das handwerkliche Können, in so einer Situation die Kamera ruhig zu führen, aber auch die Sensibilität, das Potenzial einer solchen Situation überhaupt zu erkennen. Das würde ich nicht allzu vielen zutrauen.

Schöpfungshöhe vs. moderne Kunst

iRights.info: Wobei das Gericht die für den urheberrechtlichen Schutz notwendige Schöpfungshöhe beim Originalvideo nicht erkennen wollte.

Wolfgang Ullrich: Aber der Begriff der Schöpfungshöhe ist ohnehin sehr problematisch. Man konnte schon in vielen anderen Prozessen feststellen, dass manche Richter mit den Werkformen und Strategien moderner Kunst nicht vertraut sind. Daher können sie oft gar nicht erkennen, worin die besondere Leistung eines Künstlers besteht.

iRights.info: Wo sehen Sie das konkret?

Wolfgang Ullrich: 2006 wurde etwa am Landgericht München eine Klage gegen die Malerin Xenia Hausner verhandelt. Sie hatte für eines ihrer Gemälde das Foto eines Theaterfotografen verwendet, das sie in einer Zeitung gefunden hatte. Wohlgemerkt hat sie das Motiv nicht nur in ihre unverwechselbare Malerei übersetzt, sondern es auch in einen ganz anders gearteten Bildraum integriert; für sie war das Foto nicht mehr als ein Ausgangspunkt, so wie Maler zu allen Zeiten auf Bilder zurückgegriffen haben, die andere vor ihnen geschaffen haben.

Dennoch endete der Prozess für die Künstlerin nur mit einem Vergleich; zwar darf ihr Gemälde weiter gezeigt werden, doch sie musste nicht nur Schadenersatz zahlen, sondern hat künftig bei jeder Ausstellung des Gemäldes den Fotografen des verwendeten Bildes zu nennen [Aktenzeichen 21 O 7436/06, Anm. d. Red.].

Ähnliche Fälle, bei denen etwa die konzeptuelle Leistung eines Künstlers nicht erkannt wurde, gibt es zahlreich. Man denke nur an Prozesse gegen Künstler der Appropriation-Art, die Vorbilder exakt kopieren, damit aber gerade den Themenkreis „Original und Originalität“ reflektieren – ja die Rolle, die Originale im Kunstbetrieb spielen, infrage stellen wollen. Meiner Meinung nach hinkt bei etlichen Urteilen die Rechtsprechung der Kunstpraxis um zwei bis drei Jahrzehnte hinterher. Und das ist auch beim Technoviking der Fall.

Institutionen entscheiden, was Kunst ist

iRights.info: Wie meinen Sie das?

Wolfgang Ullrich: In den letzten Jahrzehnten hat sich ein institutionalistischer Begriff von Kunst etabliert. Kunst lässt sich nicht unbedingt an bestimmten Eigenschaften erkennen, die ein Werk aufweist. Vielmehr gilt das als Kunst, was an den Orten der Kunst auftaucht und verhandelt wird. Wenn etwas in einem Museum, in einer Galerie, auf einer Kunstmesse gezeigt wird, dann sind das Indizien dafür, dass es sich um Kunst handelt – weil es offenbar Leute gibt, denen das als Kunst wichtig ist.

Darüber entscheiden nicht die Künstler selbst, sondern Kuratoren, Galeristen, Sammler. Anders gesagt: Die Institutionen des Kunstbetriebs klären, dass etwas Kunst ist. Das versteht man unter dem institutionalistischen Kunstbegriff.

Nachdem Matthias Fritsch mit diesem Projekt zu Ausstellungen eingeladen wurde, war es für jeden im Kunstbetrieb keine Frage mehr, dass es sich hierbei auch um ein Kunstwerk handelt. Man kann immer noch diskutieren, ob es als Kunstwerk gut oder schlecht ist. Und wenn es irgendwann mal kein Kurator mehr in der Ausstellung haben möchte, es kein Museum mehr zeigen will, es kein Sammler mehr kaufen will, dann verliert es diesen Status vielleicht auch wieder.

iRights.info: Und warum hat diese Kunst-Auffassung ein Problem mit dem Urheberrecht?

Wolfgang Ullrich: Weil das Urheberrecht mit seinem Begriff der Schöpfungshöhe immer noch von einem objektivierbaren Kunstbegriff ausgeht. Für diese Schöpfungshöhe muss es irgendetwas geben, eine Eigenschaft oder ein Set von Eigenschaften, damit es Kunst ist. Doch nach heutigem Verständnis gibt es diese objektiven Eigenschaften nicht, die dieses zu einem Kunstwerk werden lassen – sondern es ist der institutionelle Kontext, der darüber entscheidet.

Der Kontext ist es, der die Bedeutung eines Artefakts jeweils konstituiert. Wenn Matthias Fritsch das Video in Schwarzweiß und mit einem Filtereffekt gefilmt hätte oder wenn der Film unscharf gewesen wäre, hätte das Gericht vielleicht gesagt: Ja, das sieht wunderschön nach Kunst aus, das ist ein Kunstwerk – und hätte anders geurteilt, da es dann Eigenschaften als vorliegend erkannt hätte, die vermeintlich wesentlich für Kunst sind.

iRights.info: Zur Kunstfigur ist der „Technoviking“ erst durch viele verschiedene Beteiligte im Netz geworden. Wer hat ein Urheberrecht, wenn viele amateurhaft und unkontrolliert an der Entwicklung beteiligt waren?

Wolfgang Ullrich: An den Internet-Memen zeigt sich, dass das Urheberrecht auch in Bezug auf die sozialen Netzwerke und Medien überholt ist und einer dringenden Revision bedarf. Wenn man es im Vergleich formulieren wollte, ist ein Internet-Mem so etwas wie in der klassischen Welt ein Witz. Irgendjemand findet eine witzige Formulierung oder hat die Idee für einen Witz, gibt ihn zum Besten. Der Witz kommt gut an und wird sofort weiter erzählt, von einem, von zehn, von hunderten, wird vielleicht auch ein bisschen verändert, etwas wird weggelassen oder er wird in eine andere Situation verlegt.

So verselbständigt sich dieser Witz und wird ein Riesenerfolg, aber kein Mensch interessiert sich für den Urheber. An sich ist so ein Witz ja auch ein Werk, doch er ist urheberrechtlich schwer schützbar. Genauso ist es mit einem Internet-Mem.

„Wo es nur um Kommunikation geht, ist nichts schützbar“

Gewiss könnte man jetzt sagen: Dies und das war der Ursprung, von diesem einen Video nahm alles seinen Ausgang. Aber es wäre absurd, denjenigen, der das Urvideo gemacht hat oder das Urbild, das dann variiert oder adaptiert wird, jedes Mal um Erlaubnis dafür bitten zu müssen. In den sozialen Netzwerken funktioniert ein Bild, ein Video vielmehr als Medium der Kommunikation. Deshalb wäre mein Vorschlag, dass man für die sozialen Netzwerke die Urheberrechte gänzlich suspendiert. Wo es nur um Kommunikation geht, ist nichts schützbar.

Stellen Sie sich vor, jeder, der eine Variante des Technoviking geschaffen hat, würde erst vorher fragen müssen, ob er dies und jenes tun darf, würde die Urheberrechte klären müssen. Dann würde es nie ein Mem geben. Ein Mem lebt von einer schnellen Reaktionsgeschwindigkeit und davon, dass man es spontan macht, dass man verblüfft mit Geschwindigkeit.

Das Urheberrecht denkt auch in den sozialen Netzwerken viel zu sehr vom klassischen Werkbegriff her und nicht vom Ort, an dem etwas stattfindet. Und da sehe ich die Parallelen zur Problematik in der Kunst. Wer etwas in die Social Media platziert, gibt es frei – und die Welt kann damit machen, was sie will. Aber in den meisten Fällen macht die Welt gar nichts damit. Ab und zu passiert dann doch etwas, es entsteht gar ein Mem. Statt Einnahmen aus der Wahrnehmung von Urheberrechten zu generieren, erhält man dann vielleicht Werbeeinnahmen, so wie Matthias Fritsch.

„Pathosformeln“ der Gegenwart

iRights.info: Sind Meme tatsächlich eine Erweiterung der Kunst, die der Kunsthistoriker erfreut beobachtet? Sind sie nicht nur eine künstlerisch belanglose Spielart des Zeitgeists?

Wolfgang Ullrich: Sie sind neu als Phänomen, gleichzeitig für den kunsthistorischen und kunstwissenschaftlichen Diskurs sehr spannend. Sie lassen zum Teil alte Konzepte wieder aktuell werden. Zum Beispiel gibt es den berühmten Ansatz des Kulturhistorikers Aby M. Warburg aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Er versuchte, sogenannte Pathosformeln zu identifizieren.

Gemeint sind bestimmte Bildmotive und Bildformen, die beständig durch die Kulturgeschichte wandern, immer wieder an verschiedenen Orten in verschiedenen Funktionen auftauchen, sich von der griechischen Antike bis in die Gegenwart halten. Er sammelte einzelne dieser Motive in ihrem historischen Verlauf; unter dem Begriff der Pathosformel wollte er darlegen, wie Motive über lange Zeiträume wirken.

Der Technoviking ist so suggestiv in seiner Gestik, dass viele Leute, die das Video sehen, den unmittelbaren Impuls verspüren, das nachzumachen oder sich das irgendwie anzueignen, darauf zu reagieren. Man könnte sagen, dass Internet-Meme ein Beweis für das Phänomen sind, das Warburg als Pathosformel beschrieben hat. So gesehen kann man die Internet-Meme in einem Diskurs-Zusammenhang mit klassischen Theorien der Bild- oder Kunstwissenschaft sehen.

iRights.info: Und das würden sie auf alle Meme beziehen, die ja sehr unberechenbar sind und in unterschiedlicher Gestalt auftauchen? 

Wolfgang Ullrich: Das wäre der nächste spannende Schritt. Es gibt dieses Mem-Phänomen seit etwa zehn Jahren. Man müsste die bekanntesten in der Summe betrachten, um herauszufinden, ob und wo es Ähnlichkeiten gibt. Denken Sie mal an ein Mem, das nicht von einem Film, sondern von einem statischen Bild ausging: die Siegesgeste des Mario Balotelli, des italienischen Fußballspielers, nach seinem entscheidenden Tor gegen Deutschland bei der Europameisterschaft 2012.

Innerhalb von Stunden war das in tausenden Varianten im Internet, das Motiv wurde in alles Mögliche hineinkopiert. Ähnlich wie beim Technoviking wirkte die extreme Geste eines extremen Körpers so suggestiv, dass viele Menschen gar nicht anders konnten, als das irgendwie weiter zu verarbeiten

iRights.info: Die von Ihnen erwähnte Theorie der Pathosformeln untersuchte die Wirkung von Motiven in der Kunst über sehr lange Zeiträume. Meme leben viel kürzer, sind morgen vielleicht schon vergessen.

Wolfgang Ullrich: Es stimmt, Kunstwerke bedeuten den Menschen oft über Generationen hinweg etwas, während die meisten Internet-Meme nur ein paar Tage, oft nur ein paar Wochen, längstenfalls ein paar Monate frisch bleiben, um die Menschen dazu zu verführen, weitere Varianten zu entwickeln. Da ist der Technoviking noch eines der erfolgreichsten, weil es ein Kult war, der zumindest ein paar Jahre lebte.

Für mich ist aber auch interessant, dass viele Internet-Meme in ihren Varianten auf Kunstwerke rekurrieren. Wir finden viele, bei denen mit Edvard Munchs „Schrei“ oder mit „La Danse“ von Matisse operiert wird. Zudem zeigt sich hier, dass sich manche Kunstwerke offenbar gut als Material für Internet-Meme eignen – und andere nicht.

Matisse wird Mem

Berühmte Kunstwerke, die in jedem Kunstgeschichtsbuch zu finden sind, tauchen etwa bei diesen Internet-Memen nie auf. Sie haben offenbar keine so suggestive Qualität wie andere. Und das ist für Kunstwissenschaftler ein spannendes Phänomen.

iRights.info: Zum Beispiel?

Wolfgang Ullrich: Da ist zum Beispiel das berühmte Bild der „Demoiselles d’Avignon“ von Pablo Picasso. Es gilt als Grundbild der Moderne, mit dem der Kubismus erfunden wurde, und Sie finden es wirklich in jedem Buch abgebildet, das sich mit Kunst der Moderne beschäftigt. In den Social Media taucht es aber fast gar nicht auf.

Demgegenüber steht „La Danse“ von Henri Matisse, das fast zur selben Zeit entstanden ist – und das zwar in der Kunstgeschichte auch immer bekannt war, aber nicht als Schlüsselwerk gesehen wurde. Dieses Bild hat in den letzten zehn Jahren eine unglaubliche Prominenz durch Social Media erlangt. Das gibt es mittlerweile in hunderten von Varianten; im Grunde genommen ist es ein Mem geworden. Es kommt durch Social Media also zu Umgewichtungen, was die Bedeutung von Kunst anbelangt.

Meme sind vor allem Anregung für neue Dialoge. Es wird ja auch in der Kunstvermittlung immer mehr erkannt, dass man die Social Media einbinden kann, weil es neue Orte sind, an denen Kunst auftauchen kann, ja, an denen sie in verschiedene Kontexte gebracht wird und als Medium der Kommunikation fungiert.

Für einen Kunstwissenschaftler reicht es heute nicht mehr, zu schauen, was im Museum, auf der Kunstmesse, in einer Galerie passiert. Vielmehr müssen wir wahrnehmen, was in Social Media passiert, mit den verschiedenen Künstlern und ihren Werken. Und da ergibt sich zum Teil eine völlig andere Wahrnehmung, gerade was Erfolg und Bedeutung eines Werkes sowie seine Funktionen anbelangt.

Insofern finde ich es eine Bereicherung: Es ist ein Ort entstanden, wo Kunstwerke nicht als Kunstwerke verhandelt werden, wie im Museum oder auf der Kunstmesse, sondern wo sie sich im Kontext ganz anderer Bilder behaupten müssen. Wo sie auftauchen neben Bildern der Werbung, neben trivialen Bildern, neben journalistischen Bildern und neben historischen Bildern. All das steht gleichberechtigt nebeneinander.

iRights.info: Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie diese Erkenntnisse in einer Urheberrechtsreform umgesetzt könnten.

Wolfgang Ullrich: Man braucht erst einmal Diskussionen, in denen man das von mir erläuterte Kontextprinzip verdeutlicht, das im Urheberrecht bisher keine Rolle spielt. Gerade die sozialen Netzwerke sind ein Feld, wo das geltende Recht nicht mehr passt. Dort wird doch längst täglich millionenfach gegen das Urheberrecht verstoßen, ohne dass etwas passiert. Es gibt ab und zu mal eine Abmahnung, aber das ist unbedeutend verglichen mit dem, was alles passiert. Die Realität schafft also neue Maßstäbe, und früher oder später muss der Gesetzgeber darauf reagieren.

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Wolfgang Ullrich studierte Philosophie, Kunstgeschichte, Logik/Wissenschaftstheorie und Germanistik. Von 2006 bis 2015 war er Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie in Karlsruhe. Seither ist er freiberuflicher Autor, Kulturwissenschaftler und Berater. 
Foto: Annekathrin Kohout

Dieser Beitrag ist ein Crosspost von iRights.info vom 18.5.2015

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